Wie erwartet: Die Diskussionen über die Aussichten von Wirtschaft und Börse halten im neuen Jahr kaum verändert an. Eine Fortsetzungsgeschichte mit den gleichen Themen wie 2022, aber wechselnden (kurzfristigen) Schwerpunkten. China ist, wie vergangene Woche skizziert, wieder ins internationale Blickfeld gerückt. Inzwischen findet auch Europas Wirtschaft zunehmende Beachtung. Nur: An welchen Daten und Prognosen sollten sich Investoren orientieren?
Auffallend (und Ausdruck der Unsicherheit) ist, dass gerade jetzt unter prominenten Volkswirten und Analysten diese Frage diskutiert wird. So fragt man sich bei M.M. Warburg & CO., wie verlässlich makroökonomische Frühindikatoren sind. Ist es überhaupt sinnvoll, Konjunkturprognosen abzugeben und die aktuelle wirtschaftliche Lage in den Konjunkturzyklus einzuordnen. Driftet die Wirtschaft beispielsweise in eine Rezession oder setzt sich die Boom-Phase fort? Bei der Beantwortung dieser Frage handelt es sich nicht nur um eine akademische Aufgabe, sondern sie hilft Investoren im Wesentlichen bei der Beantwortung von zwei Fragestellungen: Zum einen liefert sie Hilfestellung bei der Prognose von Unternehmensgewinnen. Wird eine Fortsetzung des Wirtschaftsaufschwungs erwartet, steigen normalerweise die Unternehmensgewinne an, wodurch Aktienkurse ceteris paribus Rückenwind bekommen. Daraus lassen sich wiederum Handlungsempfehlungen wie „kaufen“, „halten“ oder „verkaufen“ ableiten. Zum anderen hilft die Einordnung bei der Selektion und Gewichtung einzelner Branchen. Während Aktien aus zyklischen Sektoren, zu der beispielsweise die Automobil- und die Technologiebranche zählen, vor allem in prosperierenden Wirtschaftsphasen eine starke Wertentwicklung aufweisen, empfiehlt sich in Abschwungphasen eine Allokation von Aktien aus defensiven, also wenig konjunkturabhängigen Sektoren (Telekommunikation, Versorger).
Wirtschaftslage oder Stimmung – was zählt?
Derzeit gibt es auch eine Diskussion darüber, ob die Daten zu Geschäftsklima und Konsumentenvertrauen überhaupt aussagekräftig sind. So könnte die Stimmung in der Wirtschaft deutlich schlechter sein als die tatsächliche Lage, da permanent das Risiko einer Rezession in den Medien diskutiert wird, was auf das Gemüt der Unternehmen und Konsumenten drückt. Ein gutes Beispiel dafür ist das Konsumentenvertrauen in Europa, dass im September – beim Hochpunkt der Energiepreise – auf einen historischen Tiefstand fiel. Damit einhergehend wäre eigentlich mit einem starken Rückgang der Einzelhandelsumsätze zu rechnen gewesen. Diese verzeichneten zwar einen Rückgang, aber deutlich geringer als es der historische Zusammenhang impliziert hätte. Trotz Krieg, Energiekrise und hoher Inflation waren die Konjunkturdaten aus Europa bisher ungewöhnlich resilient. Europa scheint sogar eine Rezession im Winterhalbjahr vermeiden zu können. Neben dem deutlichen Rückgang der Energiepreise und den umfangreichen staatlichen Hilfen ist auch der anhaltend starke Arbeitsmarkt ein Grund dafür.
Erlebt Europa eine Renaissance?
Für internationale Investoren haben globale Vergleiche besonderes Gewicht. „Erlebt Europa eine Renaissance?“ Das beschäftigt Chi Chan, Portfoliomanager Europäische Aktien bei Federated Hermes Limited. Im bisherigen Verlauf 2023 haben die europäischen Aktienmärkte (gemessen am MSCI Europe Index) besser abgeschnitten als die globalen und US-amerikanischen Benchmarks (MSCI ACWI Index bzw. Russell 3000). Insbesondere gilt dies auch für den 3-Monats-, 6-Monats-, 1-Jahres- und 2-Jahres-Zeitraum. Dieses Ergebnis ist aus mehreren Gründen interessant. Aus kurzfristiger Sicht bedeutete ein wärmerer Winter, dass Europa die Auswirkungen der russischen Invasion in der Ukraine auf die Energie- und Gasversorgung besser bewältigt als von vielen Beobachtern erwartet. Längerfristig gesehen ist die Outperformance Europas bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass die globalen Anleger (und sogar einige europäische Anleger) gegenüber der Region scheinbar immer wieder eine ablehnende Haltung einzunehmen scheinen.
Renditevergleiche besser nach Sektoren
Bei Federated Hermes ist man der Meinung, dass eine Aufschlüsselung der Benchmark-Renditen nach Sektoren die Entwicklung besser verdeutlichen kann. Der MSCI Europe Index weist beispielsweise nur eine Gewichtung von 7 Prozent im Bereich der Informationstechnologie auf, während der Russell 3000 einen Anteil von 24 Prozent hat. Im Vergleich zum Russell 3000 hat der MSCI Europe auch eine deutlich höhere Gewichtung im Werkstoffsektor. Diese Unterschiede verdeutlichen einige Muster in der europäischen Performance. Die fehlende Gewichtung der Informationstechnologie in Europa schadete den europäischen Aktien in der zweiten Hälfte der Jahre 2020 und 2021, da die Covid-„Goldilocks“-Nachfrage (Trend zur Mitte, nicht zu niedrig und nicht zu hoch) ausblieb. Aber in jüngster Zeit hat die Informationstechnologie unterdurchschnittlich abgeschnitten, nachdem die Zentralbanken begannen, die Leitzinsen anzuheben, und die IT-Unternehmen mit der Herausforderung konfrontiert wurden, „schwierige Wettbewerber“ zu überholen. Der relative Mangel an IT-Aktien in Europa hat sich somit in einen positiven Faktor verwandelt. Auch die höhere Gewichtung des Rohstoffsektors in Europa kam den europäischen Indizes zugute, da die Rohstoffpreise gestiegen sind.
Günstige Aussichten für Europa und Schwellenländer
Nach der aktuellen Berichtssaison sind die Aussichten für Europa und die Schwellenländer vielversprechend: Der Rückgang der Gaspreise gibt den europäischen Unternehmen Auftrieb, und die Lockerung der Covid-Beschränkungen und der regulatorischen Hürden in Peking wirkt als Katalysator für den chinesischen Markt, vor allem für den Technologiesektor. Dies birgt jedoch auch Risiken: Ein Anstieg der chinesischen Produktion könnte zu einem Wiederaufleben der Inflation in den USA führen, gefolgt von einem weiteren Straffungszyklus der US-Notenbank und mehr Unsicherheit bezüglich der Wirtschaft. Die Auswirkungen des Markteinbruchs von 2022 (z. B. auf den Versicherungsmärkten) sind noch nicht spürbar, dürften sich aber in den kommenden Monaten bemerkbar machen.