Um das neue Modewort von TV-Kommentatoren zu gebrauchen: unfassbar! So kann man das selbstzerfleischende Schlechtreden des angeblich „kranken Mann Europas“ sehen. Typisch deutsch. Die Börse lässt sich davon nicht beeindrucken. Gut so.
Die vergangene Woche brachte eine schier unerträgliche Zunahme der Miesmacherei. Die Floskel von Deutschland als „Kranker Mann Europas“ wurde von Medien, Politikern und Ökonomen weitergereicht. Rezession, Inflation und das Abrutschen auf den letzten Platz unter den Industrienationen in allen möglichen Entwicklungen – schlimmer geht’s nimmer, oder? Wer sich (wie ich) einige Stunden lang mit der Haushaltsdebatte im Bundestag gequält hat, weiß was ich meine. An dieser Stelle meine Empfehlung, einen Blick in eine Synonymgruppe für „schlechtreden“ zu werfen. Beispiel: (etwas) schlechtreden = jemandem (etwas) verekeln = (jemandem etwas) vergällen = jemandem (etwas) verleiden = (jemandem etwas) vermiesen = (jemandem) den Spaß (an etwas) verderben = (jemandem) die Freude (an etwas) nehmen usw. usw.
Börse zeigt sich widerstandsfähig
Und wie reagiert die Börse? Sie differenziert, zeigt keine Signale für Panik. Und einige namhafte Anlageprofis bleiben mehr oder weniger gelassen, vertrauen auf künftiges Wachstum und die Notenbanken. Hans-Jörg Naumer, Vordenker beim Investmentgiganten Allianz Global Investors, skizzierte am Wochenende folgendes Gesamtbild: „Es wird viel gesprochen über die Rezession, aber ob sie am Ende kommt, ist unklar, zumindest was die größte Volkswirtschaft der Welt, die USA, betrifft. Deutschlands Wachstumsraten bewegen sich bereits im leicht negativen Terrain. Dem wird sich auch die Eurozone nicht entziehen können. Dazu kommt eine merkliche Abschwächung in China, die am Rest der Welt nicht vorbeigehen wird. Die US-Volkswirtschaft zeigt sich noch sehr robust und die Rezessionsprognosen schieben sich immer etwas weiter nach hinten.“
Für Aktienmarkt nicht schwarzsehen
Noch deutlicher wird Warburg-Stratege Carsten Klude, der auch an Erfahrungen aus der Vergangenheit erinnert: Die wirtschaftliche Schwäche Deutschlands ist kein hinreichender Grund für den deutschen Aktienmarkt schwarz zu sehen. Wer sich an die 90er Jahre erinnert, weiß, dass Deutschland auch damals ein Wachstumsproblem hatte und als „kranker Mann Europas“ bezeichnet wurde, genau wie heute. Dennoch konnte sich die Performance des Dax damals sehen lassen: Von Anfang 1995 bis Ende 1999 kletterte unser Leitindex von gut 2.000 auf fast 7.000 Punkte – ein Wertzuwachs von 230 Prozent in nur fünf Jahren. Dies zeigt, dass die Dax-Unternehmen weit weniger vom Zustand der deutschen Wirtschaft als vielmehr von der Entwicklung der Weltwirtschaft beeinflusst werden, da sie einen Großteil ihrer Umsätze und Gewinne im Ausland erwirtschaften. Auch wenn die Weltwirtschaft derzeit nicht sehr dynamisch wächst, rechnet der Internationale Währungsfonds für die kommenden zwei Jahre mit einem globalen Wachstum von 3 Prozent. Das ist nicht viel weniger als in den Jahren 2012 bis 2016, also nach der Finanz- und Wirtschaftskrise bzw. der europäischen Schuldenkrise.
Politik ist ein internationales Problem
Allerdings drohen politische Unwägbarkeiten aus den USA und aus Deutschland. Ob die Berliner Koalition aus SPD, Grünen und FDP die gesamte Legislaturperiode übersteht, ist angesichts der großen inhaltlichen Unterschiede zwischen den drei Koalitionären fraglich. Vorgezogene Bundestagswahlen könnten eine künftige Regierungsbildung zusätzlich erschweren, da die AfD an Stärke gewinnt und alle Parteien ein Zusammengehen mit der AfD ausgeschlossen haben. Gut möglich, dass genau dieses Verhalten noch mehr Protestwähler in die Arme der AfD treibt. Das Ausland dürfte diese Entwicklung zunehmend kritisch sehen, was zu weniger Direktinvestitionen bei uns führen könnte. Auch dies würde sich negativ auf die wirtschaftlichen Aussichten auswirken.
Wenn es nur so einfach wäre
Auch das Research der DekaBank stellt die Entwicklungen in den drei großen Wirtschaftsräumen heraus, denn die Weltwirtschaft insgesamt dürfte in diesem und im kommenden Jahr nach eigener Einschätzung um knapp 3 Prozent wachsen. Zum großen Bild gehört, dass die Inflationsraten weiter zurückgehen werden, und zwar vor allem als Ergebnis der beherzten geldpolitischen Straffung, die rund um den Globus stattgefunden hat. Perspektivisch können die Notenbanken ihre restriktive Geldpolitik dann im kommenden Jahr wieder leicht lockern. Mit sinkenden Leitzinsen ergeben sich konstruktive Kapitalmarktperspektiven für Aktien- und Rentenmärkte.
Wenn tatsächlich alles so eindeutig wäre, könnten sich zügig neue belastbare Trends an den Märkten ausbilden. Doch gibt es in den drei großen Wirtschaftsregionen USA, Europa und China derzeit unterschiedliche Entwicklungen bzw. Probleme, die die jeweilige Notenbank nach wie vor sehr herausfordern.
Kurzfristig dürfte Unsicherheit noch anhalten
Ich teile als Ergebnis die Ansicht der eher optimistischen Analysten – allerdings durch die langfristige Brille. Der künftige Verlauf ist nicht so eindeutig, wie man dies gerne hätte. Und doch sind die Kapitalmärkte trotz manch volatiler Tage insgesamt weiter stabil. Für den weiteren Jahresverlauf wird jedoch mit der anhaltenden Unsicherheit zu leben sein.
Und Deutschland? Wir brauchen politisch mehr Mut – Mut zu Taten auf allen (!) Ebenen. Mut ist ein Motor der Wirtschaft, bestimmt das Handeln der Investoren. Mut gehört auch zum Wesen der „Börsen-Bullen“. Seien Sie mutig, geschätzte Anleger! Ein „Deutschland-Pakt“ wäre nützlicher als das Jammern über den angeblich kranken Mann Europas.