Kann sich an den Börsen jetzt wieder ein Trend entwickeln (und wenn ja, welcher)? Zweifel sind erlaubt. Denn die Nachrichtenlage bleibt auf der politischen wie auf der ökonomischen Ebene uneinheitlich.
Die Stimmung unter den Börsianern bleibt eher gedämpft – dagegen ist das Kursbild am Aktienmarkt wesentlich freundlicher. Private Anleger sollten deshalb nicht ungeduldig werden. Jüngste Wirtschaftsdaten und politische Belastungen lassen auf absehbare Zeit keine Aktienhausse zu. Es muss ohnedies erstaunen, dass der Dax in einem schwierigen Umfeld neue Höchststände erklimmen konnte. Analysten und Fondsmanager versuchen das Beste daraus zu machen und Argumente für vorsichtigen Optimismus im weiteren Jahresverlauf zusammenzutragen. Dagegen bekräftigen manche Börsengurus ihre Warnungen vor einem Crash. Dass sich die Märkte möglicherweise noch länger in einem Spannungsbogen zwischen Inflation und Rezession bewegen können, sollten Anleger vorsichtshalber in ihrer kurz- bis mittelfristigen Taktik berücksichtigen.
Ökonomische Herausforderungen
Nun ist es also doch passiert: Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer Rezession, da entgegen der ersten Schätzung das Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal um 0,3 Prozent gegenüber dem Vorquartal gesunken ist. Da es auch schon in Q4 2022 ein Minus von 0,5 Prozent gegeben hat, ist das sogenannte technische Kriterium für eine Rezession erfüllt. Carsten Klude, Vordenker bei M.M.Warburg & Co., stellt die Zusammenhänge her: Schaut man sich die Verwendungsseite der Wertschöpfung genauer an, ist der „Sündenbock“ für das überraschend schwache wirtschaftliche Abschneiden in den ersten drei Monaten des Jahres 2023 schnell gefunden: Es sind die staatlichen Konsumausgaben. Denn diese sind gegenüber dem Vorquartal mit – 4,9 Prozent so stark gesunken wie niemals zuvor seit der deutschen Wiedervereinigung. Würde man diesen Wert auf das Gesamtjahr hochrechnen, wie dies in den USA üblich ist, ergäbe sich ein Einbruch von fast 20 Prozent!
Angesichts der ökonomischen Herausforderungen, vor denen Deutschland steht (Energiewende, Klimakrise, Verteidigungsausgaben), kann man sich hier nur verwundert die Augen reiben und hoffen, dass in den kommenden Quartalen auch Bund, Länder und Kommunen wieder etwas mehr Geld in die Hand nehmen. Trotz des heftigen Gegenwinds, den schwache Wirtschaftsdaten, eine immer noch viel zu hohe Inflationsrate und die restriktivere Geldpolitik der Notenbanken verursachen, hat der Dax in diesem Jahr fast 14 Prozent an Wert gewonnen und in der vergangenen Woche sogar einen neuen Rekord mit 16.332 Punkten erreicht. Viele Anlegerinnen und Anleger fragen sich, wie das angesichts der aktuellen Nachrichtenlage passieren konnte und ob an der Börse schon wieder ein irrationaler Überschwang zu beobachten ist, der zwangsläufig zu einer schmerzhaften Korrektur bzw. einem Crash führen muss.
Kompromiss im US-Schuldenstreit
Das i-Tüpfelchen auf dem derzeitigen Giftcocktail an negativen Nachrichten stellt sicherlich das politische Tauziehen um die Anhebung der Schuldenobergrenze in den USA dar. Eigentlich handelt es sich hierbei um einen routinemäßigen Akt, der so schon ungefähr hundertmal stattgefunden hat. Finanzministerin Yellen hat davor gewarnt, dass der „X-Day“, wenn dem US-Finanzministerium das Geld ausgeht, am 1. Juni erreicht sein könnte. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Finanzmärkte, die mit einem – selbst nur kurzen – Zahlungsausfall verbunden sein könnten, wären vermutlich schwerwiegend: Die Finanzmärkte würden in Aufruhr versetzt werden, und die Wirtschaft könnte in eine Rezession stürzen.
Klude hat Recht behalten: Weil allen Beteiligten diese Effekte bekannt sind, ist die Wahrscheinlichkeit eines Zahlungsausfalls nahezu null. Am Pfingstwochenende ist der Kompromiss tatsächlich gefunden worden. Nur hat die Einigung den Feiertagshandel an den Märkten nicht spontan beflügeln können.
Konjunkturdaten und taktische Anlagestreuung
Zudem hat der Warburg-Chefvolkswirt den Eindruck, dass taktische Asset Allocation auf Basis von Konjunkturdaten in den vergangenen Jahren ohnehin keine besonders guten Ergebnisse mehr erzielt hat: „Wir haben seit dem Jahr 2000 sogenannte ‚Konjunkturzyklusmodelle‘ im Einsatz, die die Aktienquote in Abhängigkeit von verschiedenen konjunkturellen Frühindikatoren steuern können. Sowohl den großen Aktienabschwung von 2000 bis 2003 als auch den von 2008 haben diese Modelle gut vorhergesehen. Allerdings war in den vergangenen Jahren der Mehrwert dieser Vorgehensweise überschaubar. Unserem Eindruck nach wurden alle wirtschaftlichen Einflussfaktoren von der Geldpolitik überlagert. Und genau von dieser Seite könnte der Aktienmarkt in der nächsten Zeit Unterstützung bekommen, da der (globale) Preisdruck mittlerweile deutlich nachgelassen hat. Insofern dürfte sich die Phase der Zinserhöhungen dem Ende zuneigen. Unternehmensgewinne und günstige Bewertungen in Europa geben Rückenwind.“
Unternehmenszahlen überraschend positiv
Trotz der derzeit weit verbreiteten Skepsis gegenüber Aktien ist nach Darstellung mehrerer Analysten festzustellen, dass die Berichtssaison für das erste Quartal zu einer Vielzahl von positiven Gewinn- und Umsatzüberraschungen geführt hat. Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa konnten mehr Unternehmen als üblich die in sie gesetzten Erwartungen übertreffen. US-Aktien gelten vielen Profis als (zu) teurer, aber Rückkaufprogramme sorgen für steigende Kurse – obwohl institutionelle und private Anleger in den USA ihre Aktienengagements reduziert haben. US-Technologiewerte sind für den Löwenanteil der Rückkäufe verantwortlich. Apple, Alphabet, Meta Platforms und Microsoft waren nach Angaben von S&P Dow Jones im ersten Quartal die größten Käufer eigener Aktien. Apple war mit Ausgaben in Höhe von 19,1 Mrd. Dollar in diesem Zeitraum der Spitzenreiter. Vermutet Klude: Da viele dieser Unternehmen immer noch über hohe Bargeldbestände verfügen, sollte sich die gute Wertentwicklung des Nasdaq 100-Index dank der Aktienrückkäufe fortsetzen – der relativ hohen Bewertung zum Trotz.