Alles muss auf den Prüfstand

von | 26. Sep 2022 - 08:19 | Kutzers Corner

Es wäre gelogen, wenn man behaupten würde, dass die Welt in der Vergangenheit unkompliziert gewesen wäre. Menschen tendieren dazu, aktuelle Herausforderungen als besonders dramatisch einzuschätzen, während vergangene Probleme in der Erinnerung schnell verblassen und damit tendenziell unterschätzt werden. Trotzdem
wird wohl niemand widersprechen, wenn man die Meinung vertritt, dass die aktuelle Gemengelage diesmal tatsächlich kritisch ist.

Wenn Kapitalmärkte als Gradmesser verwendet werden, dürfte die aktuelle Situation sogar besonders kritisch sein. In den 10.435 Handelstagen der letzten 40 Jahre lag nach unseren Berechnungen der Unterwasserchart eines globalen Mischportfolios aus Aktien und Anleihen an nur etwa drei Prozent der Tage unter den aktuellen Niveaus. Mit anderen Worten: An fast 97% der Handelstage waren die jeweiligen Rückschläge gegenüber dem vorherigen Höchststand geringer als aktuell.

Gerade weil man jeden Tag Entscheidungen unter großer Unsicherheit treffen muss, sind Kapitalmärkte eine geradezu ideale Schule nicht nur zur Erlangung von Demut, sondern eben auch für strategisches Denken. Carsten Klude, Chefvolkswirt von M.M. Warburg & Co., hat in seiner interessanten kritischen Betrachtung den Zeitfaktor bei politischen Entscheidungen untersucht und die aktuelle deutsche Energiepolitik in den Mittelpunkt gerückt. Daraus im Folgenden wesentliche Auszüge.

Atom und Kohle nur kurzfristige Lösung

Die hohen Strom- und Gaspreise sind Ausdruck einer physischen Knappheit bei der Verfügbarkeit von Gas. Dieses Problem wird so lange bestehen bleiben, wie die physische Knappheit nicht reduziert wird. Da sich der Kauf von russischem Gas auf absehbare Zeit erledigt haben dürfte, gilt es jetzt, Lieferungen aus anderen Ländern so schnell wie möglich zu erhöhen und den eigenen Verbrauch zu reduzieren. Vor allem der eigene Verbrauch ist eine Stellschraube, an der noch etwas gedreht werden kann. Hier gilt es, so viele Atomkraftwerke und so viele Kohlekraftwerke wie möglich wieder in den Betrieb zu nehmen oder weiter laufen zu lassen, damit Gas niemals mehr im Grundlastbetrieb der Stromerzeugung verbrannt wird, sondern nur noch als Regelenergie im Wechselspiel mit Wind- und Solarstrom. Mehr Atomkraft und mehr Kohleverstromung können aber nur kurzfristige Lösungen sein, um uns aus der aktuellen Notsituation zu befreien. Langfristig führt kein Weg daran vorbei, den (übrigens deutlich steigenden) Strombedarf so weit wie eben möglich erneuerbare Energien abzudecken, auch um gegenüber anderen Ländern und Lieferanten unabhängig zu sein. In Deutschland spielt hier vor allem die Windenergie eine wichtige Rolle. Wenn in geschätzten etwa 15 Jahren der dominante Anteil an Strom und Wasserstoff mit Windkraft erzeugt werden soll, dann steht uns eine Herkulesaufgabe bevor, die in ihrer Dimension – bei allem Respekt – von der Politik noch nicht ansatzweise verstanden wurde.

Neue schnelle Gesetzgebung erforderlich

Wir brauchen dafür eine ganz neue Gesetzgebung, die den Ausbau von Stromtrassen und Wasserstoffpipelines sowie von Wasserstoffspeichern in kürzester Zeit ermöglicht. Und wir brauchen Behörden, die personell und technisch dazu befähigt werden, so schnell wie möglich Vergabeverfahren durchzuführen. Hier sind Anstrengungen möglich, die man sonst eigentlich nur aus der Kriegswirtschaft kennt. Das sind harte Worte, aber allein die Tatsache, dass sich der pro-Kopf-CO2-Ausstoß in Deutschland in geschätzten etwa 15 Jahren) und in den letzten 20 Jahren kaum verändert hat, spricht Bände und zeigt, dass wir mit jetzigen Verfahren und Methoden komplett auf dem Holzweg sind. Und wenn man schon diesem Bereich eine strategische Bedeutung beimisst, dann wäre es auch sinnvoll, die heimische Windkraftindustrie selektiv zu unterstützen. Denn wenn wir so weitermachen wie aktuell, werden in fünf Jahren nicht nur alle Solarmodule aus China kommen, sondern auch alle Windkraftanlagen. Kostet das alles sehr viel Geld? Natürlich! Muss der Staat hier unterstützen? Natürlich! Gilt es, soziale Härten abzufangen, die in den kommenden Jahren zwangsläufig entstehen und noch größer werden? Auf jeden Fall!

Schuldenbremse jetzt einmotten!

Sollte man dafür die deutsche Verschuldungsbremse einmotten? Wir denken schon! Denn ein Sachverhalt wird in dieser Debatte aus unserer Sicht komplett übersehen: Angesichts der Erwartung eines weiteren Anstiegs der Leitzinsen der EZB, sich ausweitender Renditeabstände zwischen deutschen und südeuropäischen Staatsanleihen sowie dem Erfolg extrem europafeindlicher Parteien in vielen Ländern Europas ist es ohnehin nur noch eine Frage der Zeit, bis die europäischen Schulden vergemeinschaftet werden und eine Transfer- und Fiskalunion eingeführt wird. Damit wird dann ein zusätzliches deutsches Verschuldungspotenzial von 1.500 bis 2.000 Mrd. Euro angezapft – eine Summe, die Deutschland jetzt noch für sich selbst ausgeben könnte. Das Zeitfenster dafür schließt sich aber, und mutige Entscheidungen sind gefragt. Handlungsmuster entlang historischer Verhaltensweisen sind kein guter Ratgeber.

Alles muss auf den Prüfstand. Wenn die Politik dies nicht sehr schnell versteht, wird uns diese Krise nicht mehr loslassen.

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