Die Börse ist kompliziert geworden. Und wer nach Trends sucht, beginnt naturgemäß bei den Kursen. Positiv gesehen sind die das Erfreuliche am Anfang der zweiten Jahreshälfte. Aber die Stimmung unter den Marktteilnehmern spiegelt das nicht wider. Der Begriff Unsicherheit beschreibt lapidar mehrere zusammentreffende und in gegenseitiger Abhängigkeit stehende Faktoren. Daraus hat sich im bisherigen Jahresverlauf nicht nur (die erwartete) Volatilität eingestellt, sondern auch eine zunehmende Differenzierung nach Regionen, Themen und Einzelwerten. Ich bin der Ansicht, dass sich diese Uneinheitlichkeit in den kommenden Monaten noch weiter ausbreiten wird.
Die jüngsten Veröffentlichungen der Volkswirte und Vermögensverwalter zeigen eine unterschiedlich ausgeprägte Skepsis gegenüber den kurzfristigen Chancen für eine Erholung von Wirtschaft und Börsen. Gleichzeitig erkennt man aber auch das (mitunter etwas verkrampfte) Bemühen, zumindest mittelfristig bessere Zeiten zu skizzieren. Aus Anlegersicht problematisch sind die meist im Unklaren bleibenden Definitionen der Zeiträume – Beispiel: Was ist mit „kurzfristig“ gemeint, was mit „mittelfristig“?
Am Rand einer weltweiten Rezession
Klare Worte von den Vordenkern des Fondsgiganten Allianz Global Investors: Pessimismus, die Stimmung der Stunde. Denn wirtschaftlicher Optimismus scheint gerade auszusterben. Vielleicht ein ungerechtes Urteil. Aber: In den USA ist der Konsumklimaindex der University of Michigan auf den niedrigsten Stand seit dem Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1952 gefallen. Und im Euroraum war die Verbraucherstimmung abgesehen von der Pandemie seit der Einführung des Index im Jahr 1985 noch nie so trübe wie heute. Dazu eine stark beachtete Quelle, denn ebenfalls in der vergangenen Woche schrieb der IWF, wir könnten bald am Rand einer weltweiten Rezession stehen.
Insoweit scheinen die Herausforderungen für die Anleger einigermaßen klar zu sein. Nur, was heißt das? Die Inflation läuft heiß, weshalb die Zentralbanken ihre Leitzinsen anheben müssen. Die Geldpolitik wird also weiter gestrafft. Allerdings lässt sich nur schwer (vorher)sagen, wie umfangreich die Maßnahmen ausfallen müssen, damit die Inflation dauerhaft sinkt. Dementsprechend könnten Leitzinsanhebungen der Zentralbanken absichtlich oder unabsichtlich eine Rezession auslösen.
US-Wirtschaft und Wall Street bleiben im Fokus
Ob es so kommt, ist aber keineswegs sicher. Eines gilt unverändert: Amerika steht nach wie vor im Mittelpunkt der Investoren. Es ist schon bemerkenswert, wie unterschiedlich die Analysen zur Geld- und Wirtschaftspolitik jenseits des großen Teichs ausfallen, und am Ende doch eher Hoffnung weckende Perspektiven beschrieben werden. Wall Street bleibt die Leitbörse der Welt, umso mehr, als Europa geografisch und politisch eine Kriegs- und Krisenregion geworden ist. AllianzGI hat aber noch eine andere Sicht: Mit Blick auf die USA kann man durchaus die Frage stellen, wie wahrscheinlich massenhafte Unternehmenskonkurse sind – schließlich ist die coronabedingte Rezession, in der bereits viele besonders gefährdete Unternehmen geschlossen haben, gerade mal zwei Jahre her. Und die Verbraucher beklagen sich zwar lautstark über die hohen Preise – aber sie geben nach wie vor Geld aus. Die finanzielle Lage der privaten Haushalte ist nach wie vor recht gut. Und die Unternehmen stellen weiterhin ein. Letztendlich gehören Rezessionen zum Konjunkturzyklus einfach dazu. Dass sie eintreten, ist klar – nur der Zeitpunkt ist ungewiss. Wenn sich also alle einig sind, dass ein anscheinend unvermeidliches Ereignis irgendwann passiert, geht es in der Analyse vor allem um die Frage, in welchen Punkten der Konsens richtig liegt und in welchen nicht.
Neue Woche bringt viele neue Zahlen
Inzwischen befinden wir uns mitten in der Berichtssaison mit zahlreichen börsenrelevanten Zwischenberichten der Aktiengesellschaften für das zweite Quartal. In der neuen Woche ist der Kalender mit Daten vollgepackt, die uns mehr Informationen über den Zustand der Weltwirtschaft geben. Am Montag geht es in Asien los, wo der Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe in China voraussichtlich den stärksten Anstieg seit über drei Jahren aufweisen wird. In den USA ist mit dem genauen Gegenteil zu rechnen: Der ISM-Index für das verarbeitende Gewerbe wird wahrscheinlich so schwach ansteigen wie seit Juni 2020 nicht mehr. Auch am Dienstag und Mittwoch wird der Euroraum im Mittelpunkt stehen. Am Donnerstag stehen Daten aus Japan und Großbritannien an. In Großbritannien wird die Bank of England (BoE) ihren Leitzins wohl zum sechsten Mal in sieben Monaten anheben.
Die Woche geht am Freitag mit einem Paukenschlag zu Ende: den US-Beschäftigungszahlen. Der Konsens rechnet mit einer leichten Entspannung am historisch angespannten Arbeitsmarkt. Außerhalb des Agrarsektors könnten im Juli immer noch beachtliche 255.000 Stellen geschaffen worden sein; im Juni lag die Zahl bei 372.000. Die Arbeitslosenquote dürfte bei 3,6%, also auf dem tiefsten Stand seit Generationen, verharren.
Aktive Anleger sollten sehr selektiv vorgehen
Kann man (oder sollte man) als aktiver Anleger jetzt Aktien kaufen? Sie kennen mich als alten Börsen-Bullen, geschätzte Leser, der seit einiger Zeit dem Aktienmarkt eher zurückhaltend gegenübersteht – ohne allerdings seine langfristige Pro-Aktie-Haltung aufzugeben. Aber auch andere Anlageklassen machen momentan kaum Mut. Das gilt vom Immobiliensektor bis hin zu Industriemetallen und Gold. Das eingangs beschriebene Szenario spricht also für gezielte Einzelengagements (Stockpicking) basierend auf den fundamentalen Daten und nicht für breite Länderengagements.