Autokratie auf dem Vormarsch. Demokratie in Gefahr, Krisen und Kriege – nichts auf der Welt passt mehr zusammen. Trotzdem bleiben die Börsen in Rekordlaune.
Und bei uns? Die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen in Deutschland sind zerstritten wie selten. Die Kontroversen rauben Zeit. Pessimisten führen das Wort. Da ist kaum Platz für konstruktive Diskussionen. Und so geht das internationale Image des bisher vorbildlichen Standorts D allmählich verloren. Müssen die privaten Kapitalanleger darauf reagieren? Namhafte Investmentstrategen bemühen sich immer intensiver, Ursachen und Problemlösungen zu analysieren.
Alle Augen sind auf die USA gerichtet
Beispiel Allianz Global Investors (AllianzGI), deren Markteinschätzungen ich kontinuierlich verfolge. Im Folgenden die jüngste globale Marktanalyse: Die Weichen für eine historische Zinssenkung sind gestellt. Da sind die Entwicklungen in den USA für die globalen Märkte wichtiger denn je. Aufgrund der jüngsten Daten geht man davon aus, dass die US-Wirtschaft auf eine weiche Landung zusteuert – der „Heilige Gral“ der Zentralbanken –, bei der die Inflation gedämpft wird, ohne die Wirtschaft in eine Rezession zu stürzen.
Angesichts der sich abzeichnenden leichten Konjunkturabschwächung sei es nun am wahrscheinlichsten, dass die US-Notenbank (Fed) im Juli eine Zinssenkung vornehmen wird – ein „Wendepunkt“, der eine offizielle Einladung zum Wiedereinstieg in die Märkte nach dem Rücksetzer des Jahres 2022 darstellt und Anleihen und Aktien in den kommenden Monaten weiter beflügeln dürfte. Die Frage ist dann, wie schnell – und wie stark – die Fed die Zinsen senkt. In dieser Hinsicht erwarten die Märkte mittlerweile deutlich weniger als noch Ende 2023.
Selektive Chancen bei erhöhter Volatilität
Während die Anleger auf den nächsten Schritt der Fed warten, profitieren die Märkte von einer Weltwirtschaft, die sich trotz allem widerstandsfähiger zeigt als in früheren Hochzinsphasen. Und es gibt Anzeichen dafür, dass auch die europäische und die chinesische Wirtschaft allmählich die Talsohle erreichen.
Solide Unternehmensgewinne in Ländern wie den USA und Japan dürften Risikoanlagen stützen. Außerdem: Achten Sie, geschätzte Anleger, auf den „Joker“ der künstlichen Intelligenz (KI): Jede Beschleunigung der Umsetzung in den kommenden Quartalen könnte ein Zeichen für höhere Produktivität und niedrigere Inflation sein.
Die geopolitischen Risiken nehmen zu
Die aus meiner Sicht größten Gefahren – nicht nur für Anleger – entwickeln sich allerdings aus den internationalen Konflikten. Dazu AllianzGI: Die geopolitischen Risiken haben zugenommen. Bislang ist es den Märkten gut gelungen, sich an ein von Konflikten und globalen Spannungen geprägtes Umfeld anzupassen, insbesondere in einem Jahr, in dem in den USA Wahlen anstehen. Das Risiko eines großen „schwarzen Schwans“ sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden.
Die jüngste Rally an den Aktienmärkten zeigt jedoch, dass dies für Anleger nicht der richtige Zeitpunkt ist, um sich zurückzuhalten. Deshalb sagen die Fondsexperten: „Wir halten die Märkte nicht für überkauft. Marktschwankungen sind wahrscheinlich, können aber auch Chancen bieten.“
Empfehlungen zu einzelnen Anlagemärkten
Und das lese ich zu führenden Aktienmärkten: Die USA werden positiv beurteilt, da die Bewertungen angesichts der robusten Gewinne auf selektiver Basis angemessen sind; China bietet potenziell attraktive Bewertungen und Innovationspotenzial. Und Japan? Die Verbesserung der Unternehmensführung (Corporate Governance) und die reibungslose Normalisierung der Geldpolitik stützen die Aktienbewertungen. Technologie: Einige der „Glorreichen Sieben“ sind recht hoch bewertet, der Sektor als Ganzes jedoch nicht.
Mehr arbeiten – Dax als Vorbild
Interessant ist auch die ebenfalls am vergangenen Wochenende vorgelegte Analyse von M.M. Warburg „Wachstum in Deutschland – was läuft falsch, was geht besser?“ Deutschland wächst seit vielen Jahren weniger als fast jede andere wichtige Volkswirtschaft auf dem Planeten. Dafür gibt es sehr viele gute Gründe, aber ein ganz zentraler Grund liegt im extrem geringen Arbeitseinsatz in Deutschland. Es gibt kein wichtiges Industrieland auf der Welt, in dem ein durchschnittlicher Erwerbstätiger noch weniger arbeitet als in Deutschland. Die geleisteten Arbeitsstunden pro Einwohner pro Jahr liegen international ebenfalls auf einem extrem niedrigen Niveau.
Selbst das gesamte absolute volkswirtschaftliche Arbeitsstundenvolumen ist in Deutschland in den letzten 25 Jahren nur noch marginal gestiegen – trotz Einwanderung und höherer Arbeitsmarktpartizipation von Frauen. Auch hier sind wir in der Entwicklung international weit abgeschlagen. Da die Arbeitsproduktivität im Gegensatz zu vielen anderen Ländern gleichzeitig kaum gestiegen ist, ergibt sich ein schwaches Wachstum schon mathematisch fast von allein. Nüchtern betrachtet könnten wir unsere Wachstumsschwäche zu einem erheblichen Teil allein schon dadurch lindern, indem wir in Deutschland wieder kollektiv ein klein wenig mehr arbeiten würden: „Man kann es drehen und wenden, wie man will. Grundsätzlich gilt: Wir müssen wieder mehr und härter arbeiten. Mehr Stunden pro Woche, mehr Jahre und das bei einer höheren Partizipationsrate am Arbeitsmarkt! Wir lassen ein gewaltiges Maß an Humankapital in Deutschland nahezu unbenutzt, um es mal ganz hart ökonomisch zu formulieren.“
Abschließend erinnern die Hamburger Banker an die Gruppe „Geier Sturzflug“ mit ihrem Hit in den 80er Jahren „Ja ja ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt…“. Vergessen wir unsere kollektive Depression und machen es einfach mal wieder wie früher! Als unverbesserlicher Optimist kann ich den Stimmungsfaktor nur dick unterstreichen: Zu meinen Wunschträumen gehört, dass eine Welle von Optimismus übers Land rollt und alle gesellschaftlichen Gruppen erfasst. Denn wir brauchen nicht allein stabilen Geldwert und niedrige Zinsen, sondern dazu auch mehr Mut und Zuversicht. Mein Vorschlag: Politik und Wirtschaft sollten sich Dow und Dax zum Vorbild nehmen!