Kann man als Kapitalanleger auf die zweite Jahreshälfte setzen? Mann kann, natürlich, aber ich würde es noch nicht tun. Die Risikofaktoren bleiben auf absehbare Zeit, insbesondere für Anleihen und Aktien. Selbst am Immobilienmarkt sieht man erste Warnblinker. Und wie sich die Pandemie entwickeln wird, ist in Expertenkreisen lebhaft umstritten. Dennoch gibt es wenigstens einen Hoffnungsansatz: Statt immer düsterer zu werden, sollte sich das Umfeld der Märkte im Laufe des zweiten Halbjahres aufhellen. Das heißt nicht, Stimmung und Kurse würden besser. Aber die Marktteilnehmer sehen klarer und die taktischen Anlageentscheidungen fallen dann leichter, wenn sich Chancen und Risiken besser einschätzen lassen. Mir fällt in diesem Zusammenhang die ZDF-Eigenwerbung ein „Mit dem Zweiten sieht man besser“.
Momentan werden die Entwicklungen an den Börsen noch mit viel Wenn und Aber verknüpft. Die Mehrheit der Propheten zeigt jedenfalls wenig Mut zu klaren Ansagen. Verständlich. Keine Seltenheit ist die Warnung, dass die Talsohle noch nicht erreicht sei. Es besteht kurzfristig weiteres Abwärtspotenzial am breiten Aktienmarkt, denn Aktien sind in Relation zu den gestiegenen Anleiherenditen keinesfalls günstig geworden. Die (US-) Zinswende übt weiterhin Druck aus. Das nächste Aktienmarktrisiko liegt nach Meinung dieser Analysten in aufgeschobenen Gewinnrevisionen und Enttäuschungen. Diese werden in der folgenden Berichtssaison wahrscheinlich.
Risiken sind größer als die Chancen
Aktuell überwiegen die Risiken am Aktienmarkt eindeutig die Chancen. Vorsichtige Portfolio Manager erwarten daher kurzfristig weiteres Abwärtspotenzial am breiten überregionalen Aktienmarkt. Analysten waren aufgrund der Vielzahl aufkeimender Unsicherheiten in diesem Jahr zögerlich bei der Anpassung ihrer Gewinnschätzungen. In der kommenden Berichtssaison zum zweiten Quartal 2022 werden negative Anpassungen der Gewinnerwartungen wahrscheinlich. Andererseits werden auch Katalysatoren für eine Kurserholung nicht ganz ausgeschlossen: das Verschwinden von mindestens einer der gefürchteten Konjunkturbelastungen.
Das unruhige und teils heftige Auf und Ab an den Kapitalmärkten wird sich auch aus Sicht der Privatbank Berenberg noch eine ganze Weile fortsetzen. Eine jahrelange Dürreperiode am Aktienmarkt erwartet man allerdings nicht. Vielmehr wird mit einer Bodenbildung in der zweiten Jahreshälfte gerechnet. Allerdings noch nicht im dritten Quartal, da sich erst dann die Auswirkungen von Inflation, Kaufkraftschwäche und Konjunkturabschwung in den Unternehmensbilanzen niederschlagen dürften. Danach sollte rasch aber eine Erholung folgen, wie die Erfahrung zeigt. Historisch gesehen liefen die negativen Gewinnrevisionen weiter, aber der Markt hatte seinen Boden bereits gefunden.
Die positiven Ansätze für eine Besserung
Während im ersten Quartal dieses Jahres Inflationssorgen die Märkte dominierten, haben seit dem zweiten Jahresviertel Konjunktur- und Rezessionsängste die Oberhand gewonnen. Die Stimmung der Anleger ist entsprechend skeptischer geworden. Die Positionierungen sind mittlerweile niedrig und die Aktienbewertungen zugleich zunehmend attraktiver. Damit nehmen die Börsen inzwischen ein Absacken der Wirtschaft weit unter die Wachstumsschwelle vorweg, ausgedrückt im globalen Einkaufsmanager-Index der Industrie. Das Kurs/Gewinn-Verhältnis von Aktien liegt inzwischen in den USA unter dem dreißigjährigen Durchschnitt und in Europa sogar deutlich darunter. Mehrere Strategen gehen auch für 2023 von einer Rezession aus – und zwar einer leichten, sowohl in den Vereinigten Staaten und auch in der Eurozone. Auf diese sollte 2024 wieder Wirtschaftswachstum folgen. Zugleich dürfte sich die hohe Inflation von mehr als 7 Prozent im laufenden Jahr in diesen beiden Regionen wieder spürbar abschwächen auf im Schnitt 3,4 Prozent in den USA im Jahr 2023 und 4,0 Prozent in der Eurozone.
Die Lage bei Aktien dürfte kurzfristig angespannt bleiben, denn das erwartete Gewinnwachstum für die Jahre 2022 und 2023 scheint mit 11 und 9 Prozent für den S&P 500 sowie 14 und 5 Prozent für den Stoxx 600 in Anbetracht der konjunkturellen Abkühlung zu hoch, schreibt die Deutsche Bank. Mit der Berichtssaison zum zweiten Quartal könnten daher negative Gewinnrevisionen zunehmen und Aktien trotz ihrer nunmehr niedrigeren Bewertungen belasten. Eine weitere Schwächephase dürfte dann allerdings einen geeigneten Zeitpunkt darstellen, um die Aktienquote in einigen der gebeutelten Sektoren zu erhöhen. Schließlich liegen die Kurs-Gewinn-Verhältnisse mit 16 für S&P 500 und 12 für den Stoxx 600 bereits nahe der Rezessionstiefstände von 2001. Damit dürften die Kurse bereits eine signifikante Konjunkturverlangsamung einpreisen, sodass bei einer Stabilisierung der makroökonomischen Lage eine rasche Gegenbewegung eintreten könnte.
Schwellenländer zum Teil attraktiv
Nach den Kurskorrekturen gibt es jetzt eine Reihe von Märkten, die sehr günstig erscheinen – zum Beispiel innerhalb der Schwellenländer, lese ich bei internationalen Fondsmanagern. Einige dieser Länder haben wesentlich früher als viele entwickelte Volkswirtschaften mit Zinsanhebungen begonnen. Daher ist die Inflation dort bereits zurückgegangen. Dennoch wird es unter den aufstrebenden Volkswirtschaften aufgrund der unterschiedlichen Dynamik und der verschiedenen politischen Maßnahmen vermutlich sowohl Erfolgsgeschichten als auch das Gegenteil geben. Vereinfacht ausgedrückt könnten die Energie- und Lebensmittelexporteure im Vergleich zu den Importeuren weiter zulegen.
Wann wird sich die Inflation normalisieren?
Die Teuerungsrate in der Eurozone hat im Juni mit 8,4 Prozent ein neues Allzeithoch erreicht. Damit ist die Inflationsrate mehr als viermal so hoch wie die Zielmarke der Europäischen Zentralbank. Analysten hatten im Juni lediglich eine Teuerungsrate von 8,4 Prozent prognostiziert. Im Mai hatte die Inflation bei 8,1 Prozent gelegen, im April bei 7,4 Prozent. Den Statistikern nach waren die hohen Energiepreise weiterhin Haupttreiber der Inflation. Einer aktuellen Analyse der Deutschen Bank zufolge könnte der Rückgang der russischen Gasimporte zu einer noch weiter ausufernden Teuerung in Europa führen. Sollte die Gasdrosselung in den kommenden Wochen nicht behoben werden, sei eine „viel höhere Inflation“ zu befürchten. In Deutschland müssen sich die Verbraucher auf weiter steigende Lebensmittelpreise einstellen. Wie das Ifo-Institut auf Basis einer Umfrage bekanntgab, will fast jeder Händler für Nahrungs- und Genussmittel seine Preise erhöhen.
Der Ukraine-Krieg und die Inflation bleiben nach meiner Einschätzung die Dreh- und Angelpunkte für Stimmung und Kursentwicklung an den Finanzmärkten. Ob sich der Horizont aufhellt oder weiter verdunkelt – für langfristige Anleger gibt es keinen Grund, die Sachwerte-Strategie zu ändern: Aktien und Rohstoffe (einschließlich Gold als Sicherheitsspeicher).