Die Börsenprofis tasten sich vorsichtig weiter vor. Jüngste Marktanalysen machen deutlich, dass frühere Prognosen korrigiert werden müssen – ähnlich wie die stark beachteten Konjunkturindikatoren einschließlich der Inflationsraten. Das erschwert den Anlegern die kurz- bis mittelfristige Taktik
Das Research der DekaBank bringt es auf den Punkt: Die Suche nach der neuen Normalität ist längst noch nicht abgeschlossen. Jede neue Veröffentlichung von Konjunktur- und Inflationsdaten kann die Märkte zwischen Rezessions- oder Inflationssorgen die Seiten wechseln lassen oder sogar die Tristesse eines Stagflationsszenarios aufkommen lassen. Mithin wird nach wie vor nach den angemessenen Bewertungen bei den Vermögenspreisen gesucht.
Mit erheblichen Kursschwankungen rechnen
Zweifellos haben die Kursrückgänge an den Aktienbörsen dazu beigetraten, dass sich die Kurs/Gewinn-Verhältnisse spürbar verringert haben. Vor allem aus den Kursen von Technologiewerten – und übrigens auch von Krypto-Anlagen – ist einige Luft entwichen. Die Aktienmärkte sind nunmehr moderat bewertet, und an den Rentenmärkten kann man mit einem positiven Kupon rechnen. Doch bevor sich neue belastbare Trends an den Finanzmärkten ausbilden, ist über den Sommer mit geo- und geldpolitischen Unwägbarkeiten und daher auch mit erheblichen Marktschwankungen zu rechnen.
Die Strategen der Allianz Global Investors haben bereits im Herbst letzten Jahres von einer „kniffligen Mixtur“ aus nachlassendem Wachstum und sich verstärkender Inflation gesprochen. Diese Mixtur bleibt vorerst bestehen und hält die Kapitalmärkte in Schach. Die Inflation durchdringt zunehmend die Volkswirtschaften. Beispielhaft zeigen die jüngsten Inflationsdaten aus den USA, dass die sogenannte Kerninflation (also die Inflationsrate ohne die schwankungsanfälligen Energie- und Nahrungsmittelkomponenten) weiter nach oben überrascht. Sie liegt inzwischen über 6% im Vorjahresvergleich – also um den Faktor drei über dem angestrebten Inflationsziel von 2%. Die Lohnkosten in den USA stiegen im ersten Quartal um rekordhohe 4,5 %. Auch in anderen Ländern überraschen Inflationsraten negativ.
„Slowflation“ statt „Stagflation“
Dies sollte die Zentralbanken weiterhin beunruhigen. Es bedarf nun echter Entschlossenheit und noch einiger Zinsschritte, um den Geist der Inflation wieder zurück in die sprichwörtliche Flasche zurückzubekommen. Die Inflationsbekämpfung der Zentralbanken wiederum dürfte früher oder später die Konjunktur verlangsamen, wenn auch vorerst nicht zum Stillstand bringen. Zunächst gilt: „Slowflation“ statt „Stagflation“ – also langsameres Wachstum bei erhöhter Inflation. Erste Bremsspuren verursachen die hohen Inflationsraten selbst, beispielsweise beim Konsumentenvertrauen. Steigende Hypothekenzinsen könnten die Baukonjunktur allmählich abkühlen, ebenso die Inflation bei den Immobilienpreisen.
Neben den Zentralbanken bremsen zwei externe Schocks das Wachstum und wirken inflationsfördernd: die Invasion in die Ukraine und der schwer zu kontrollierende Ausbruch der Omikron-Variante von Covid-19 in China. Vor allem die Effekte der „Zero-Covid“-Politik im Land der Mitte bremsen die Weltwirtschaft. Die langjährige Wachstumslokomotive China ist schwer zu ersetzen. China ist aber nicht nur Teil des Problems, sondern womöglich auch der Lösung. Soll in diesem Jahr noch eine Wachstumsrate von etwas über 5% erreicht werden (was der Plan der chinesischen Regierung ist), bedarf es einer hohen Dosis an Stimuli. Insgesamt dürfte das „Slowflation“-Umfeld mit zunehmenden Wachstumssorgen bei historisch hohen Inflationsraten für den Kapitalmarkt herausfordernd bleiben. Fazit von AllianzGI Allmählich könnten merklich im Preis gefallene Aktien bei ausgewählten Unternehmen hoher Qualität und Widerstandskraft womöglich erste Einstiegschancen für Langfrist-Investoren bieten.
Aktien nicht mehr alternativlos?
Etwas andere Töne kommen aus London. Prominente Asset Manager stellen die „gute alte“ Tina-Strategie in Frage: Tina = There is no alternative kommt angeblich aus der Mode. Nachdem jahrelang fast alles für Aktien sprach, hat sich das Marktumfeld zuletzt stark verändert. Die Asset-Allokation könnte an einem Wendepunkt stehen, und Anleihen könnten wieder interessanter werden, heißt es. Bis vor Kurzem galten Aktien als Assetklasse der Wahl, an der kein Weg vorbeiführt. Das Wirtschaftswachstum war hoch und legte weiter zu, die Binnennachfrage war ungewöhnlich stabil. Doch zuletzt hat sich das Umfeld stark verändert. Jetzt gilt Inflation als wichtigstes Risiko, und die straffere US-Geldpolitik weckt Rezessionssorgen. Aktieninvestoren machen sich immer mehr Sorgen um Konjunktur und Unternehmensgewinne.
Andere internationale Häuser betonen die Abhängigkeit der Börsen vom Kurs der Notenbanken. Die Inflation mag zwar jetzt ihren Höhepunkt erreicht haben. Dennoch muss die EZB die schwierige Gratwanderung zwischen der geldpolitischen Straffung zur weiteren Eindämmung der Inflation, dem Schutz der fragilen wirtschaftlichen Erholung nach der Pandemie und der Überwachung der Spreads gegenüber deutschen Bundesanleihen bewältigen. Aus diesem Grund könnte die Zinsreaktion in Europa zögerlicher ausfallen als die der Fed in den USA, und die Inflation würde in Europa auch länger höher bleiben. Dies würde die Rotation in Dividenden- und Value-Aktien in Europa weiter unterstützen, wobei zyklische Sektoren (Energie, Grundstoffe, Industrie, Finanzen) potenziell eine Outperformance erzielen könnten. Wie gesagt: Könnten.
Langfristige Anleger können noch (relativ) gelassen bleiben
Diese Auswahl von Stimmen macht wenigstens klar, wie unklar die Perspektiven noch sind. In meinen Augen betrifft dies aber in erster Linie die kurz- bis mittelfristig planenden Anleger. Denn wie auch immer die Suche nach einer „neuen Normalität“ ausgehen mag – für Anleger mit ganz weitem Horizont gilt das historische Argument der überlegenen Anlageklasse Aktien. Und das trotz aller Höhen und Tiefen. Wer für zehn Jahre und länger investiert, sollte bei Sachinvestments bleiben – braucht jetzt auch nicht in Panik zu verfallen.