Was wird aus dem Standort Deutschland?

von | 2. Mai 2023 - 08:17 | Kutzers Corner

Wohin können (besser: sollten) zukunftsorientierte Unternehmer und Investoren ihr Kapital lenken? Europa und Deutschland stehen in einem kritischen Licht.

Alle Ebenen unserer Gesellschaft sind seit Pandemie und russischem Angriffskrieg auf die Ukraine in Bewegung geraten – nicht nur Außenpolitik und Wirtschaft. Dabei erweitert sich auch das Vokabular. Man könnte die „Zeitenwende“ (Bundeskanzler Olaf Scholz, 2022) formelähnlich von bisher „Innovation+ Globalisierung“ in „Disruption + Deglobalisierung“ aktualisieren. Eine Trendverstärkung also, vom allem eine Trendbeschleunigung. Diese Entwicklung beschäftigt alle – internationale Organisationen, geopolitische Bündnisse, nationale Politik, Wirtschaftsunternehmen, das Militär, Kultur und Sport, die Bevölkerung in Ost und West. Aber Vorsicht! Die Diskussionen über die Zukunft Deutschlands nehmen zeitweise hysterische Züge an.  Manchen politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen ist in ihren kontroversen Debatten die Gelassenheit verlorengegangen. Diese brauchen wir aber, wenn man uns international hören und verstehen soll.

Unternehmer sehen Standort Deutschland gefährdet

Diverse wissenschaftliche Untersuchungen und Umfragen bestätigen die sich ausbreitende Sorge. Beispiel: Jeder zweite Familienunternehmer würde den Betrieb heute anderswo aufbauen. Sie sehen die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland „erheblich gefährdet“. Das ergibt eine Umfrage unter 845 Mitgliedern vom Verband Die Familienunternehmer und Die jungen Unternehmer. 22 Prozent der Befragten denken mindestens einmal pro Woche daran, ihr bestehendes Unternehmen zu verkaufen, 47 Prozent immerhin ein bis zweimal im Jahr. 96 Prozent der Befragten sind überzeugt, dass die Deindustrialisierung in Deutschland begonnen hat – fast die Hälfte sieht die Deindustrialisierung bereits in vollem Gange. Der nachfolgenden Generation wird es deutlich schwerer fallen, die Unternehmenstätigkeit fortzuführen, geben 94 Prozent der Unternehmer an.

Bürokratie gilt als besonders großes Problem

Das größte Problem für die Unternehmer ist die Bürokratie in unserem Land. Der Aufwand zur Erfüllung staatlicher Vorgaben für das eigene Unternehmen hat sich für 85 Prozent der Befragten in den letzten zehn Jahren erheblich vergrößert. 40 Prozent der Unternehmer bewerten Überregulierung und langsame Behörden als das drängendste unternehmerische Problem. Gefolgt vom Arbeitskräftemangel, zu hohen Sozial- und Steuerabgaben, zu hohen Energie- und Produktionskosten und dem Digitalisierungsrückstand.

Sarna Röser, Bundesvorsitzende der jungen Unternehmer: „Deutschland wird als Standort zunehmend toxisch für Unternehmen. Enorme bürokratische Lasten in Verbindung mit massivem Arbeitskräftemangel, dauerhaft hohen Energiepreisen sowie hohen Steuern und Abgaben ergeben einen Giftcocktail für die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Deutschland ist zu teuer, zu überreguliert und zu verkrustet. Andere Wirtschaftsstandorte haben die Nase vorn und werben ganz aktiv auch um deutsche Unternehmen. Die Abwanderung dieser Unternehmen findet schon statt – ohne Umzugscontainer, aber leise über Investitionspläne ins Ausland, aber auch in Form von Unternehmensaufgaben und -verkäufen bei kleinen und mittelständischen Unternehmen.“

Bankenturbulenzen hierzulande nicht langfristig

Letztlich werden auch die Finanzmärkte und Börsen von diesen „Herausforderungen“ (= Lieblingswort der Politiker für Probleme) berührt. Insgesamt erwarten die Finanzmarktexperten auf Sicht von sechs Monaten leicht negative Auswirkungen und auf Sicht von zwei Jahren keine Folgen für Deutschland, den Euroraum und die USA. Das sind die Ergebnisse der Sonderfrage im ZEW-Finanzmarkttest vom April 2023.

Eine Mehrheit der Befragten (rund 54 Prozent) geht davon aus, dass sich in den nächsten sechs Monaten keine Änderungen für das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) ergeben werden. 43 Prozent erwarten hingegen leicht negative Auswirkungen. Auch die Inflation dürfte auf Sicht von sechs Monaten von den Ereignissen im Bankensektor nahezu unberührt bleiben. Mit rund 64 Prozent erwartet eine große Mehrheit der Befragten keine Auswirkungen, rund 24 Prozent gehen von leicht negativen Effekten aus. Mit Blick auf die nächsten zwei Jahre gibt eine große Mehrheit an, dass keine Auswirkungen auf das deutsche BIP (75 Prozent) und die Inflation (77 Prozent) zu erwarten sind. Für den Euroraum ergibt sich ein sehr ähnliches Bild.

Auswirkungen auf US-Wirtschaft am stärksten

Nach Ansicht der Finanzmarktexperten werden sich die Spannungen kurzfristig eher in der US-Wirtschaft bemerkbar machen, wobei die Auswirkungen moderat ausfallen dürften. Rund 46 Prozent bzw. 45 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass der Einfluss auf das US-BIP in sechs Monaten gleich null oder leicht negativ sein wird. Ebenso erwartet eine Mehrheit der Befragten von rund 54 Prozent kurzfristig keine nennenswerten Auswirkungen auf die US-Inflation. Aufgrund der Spannungen im Bankensektor erwartet eine Mehrheit der Befragten kurzfristig allerdings eine etwas weniger aggressive Geldpolitik der Federal Reserve. So rechnen rund 52 Prozent der Befragten auf Sicht von sechs Monaten mit leicht negativen Folgen für den US-Leitzins.

Klima- und Umweltschutz bleiben die globalen Klammern

Wo stehen wir heute? Der Begriff Deglobalisierung ist als die Umkehrung der Globalisierung definiert. Es werden globale Verflechtungen sowohl auf wirtschaftlicher und kultureller als auch auf politischer Ebene rückgängig gemacht. Beim Prozess der Deglobalisierung werden somit länderübergreifende Strukturen und Beziehungen verringert. Meine Zwischenbilanz: Ich kann (noch) keine breite Umkehr der Globalisierung erkennen. Kann es die in einer Welt, die so weit zusammengerückt ist, überhaupt geben? Nein. Denn der Erhalt unseres Lebensraums ist die alles und alle umfassende globale Aufgabe. Die gemeinsam zu lösen, ist von existenzieller Bedeutung. Sie wird mit jedem Tag noch dringlicher. Klima- und Umweltschutz – das sollten somit auch zentrale Ziele für unternehmerische Investoren und Kapitalanleger werden. Ob in Deutschland oder international.